Hintergrund: In Deutschland besteht die Sorge, dass die Kapazität der Betten auf Intensivstationen für die COVID-19-Pandemie möglicherweise nicht ausreicht. Ziel war es, die maximale tägliche Anzahl von COVID-19-Fällen zu bestimmen, die vom 11. April bis zum 30. Juni 2020 auf Intensivstationen behandelt werden müssen.
Methoden: Wir nahmen drei nichtexponentielle Szenarien für die Entwicklung der kumulativen Fallzahlen bis zum 30. Juni 2020 an (linear, langsam und schnell quadratisch). Wir nahmen an, dass der prozentuale Anteil der Patienten, die intensivpflichtig werden, zwischen 3 und 10 % liegt, dass die Dauer bis zur Intensivpflichtigkeit acht Tage beträgt und dass die Dauer der Intensivpflege 14 oder 20 Tage beträgt.
Ergebnisse: Die Extrapolation der maximal registrierten täglichen COVID-19-Fälle ergibt eine Spanne zwischen 4 133 und 12 233 Fällen. Unter der Annahme, dass 3–10 % der neu entdeckten COVID-19-Fälle zu Intensivpatienten werden und die durchschnittliche Verweildauer zwischen 14 und 20 Tagen liegt, kommen wir auf maximale tägliche Intensivfälle zwischen 1 989 (lineare Extrapolation, 3 % Intensivpflichtigkeit, 14 Tage Aufenthalt) und 20 966 (schnelle quadratische Extrapolation, 10 % Intensivpflichtigkeit, 20 Tage Aufenthalt).
Diskussion: Unsere Ergebnisse geben keinen Anlass zu einer Diskussion über eine notwendige Triage von COVID-19-Patienten in Deutschland. Die Belegung der Betten auf der Intensivstation sollte jedoch zentral gesteuert werden, damit die Bettenkapazität optimal genutzt wird. Sollte es wider Erwarten doch noch zu einem exponentiellen Anstieg der Fallzahlen kommen, sind unsere Ergebnisse hinfällig.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung der SARS-CoV-2-Pandemie in Deutschland besteht die Sorge, dass die Kapazität der Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser für das COVID-19-Fallvolumen (COVID-19, coronavirus disease 2019) nicht ausreichen wird. Im Fernsehen werden Triage-Szenarien aus Italien gezeigt, in denen Ärzte entscheiden müssen, welche Patienten beatmet werden und welche nicht. Es besteht die Befürchtung, dass in Deutschland, wenn die Pandemie ihren Höhepunkt erreicht, eine ähnliche Triage-Situation wie in Italien entstehen wird. Schlagzeilen in der Presse wie „RKI: Zahl der Intensivbetten wird nicht ausreichen“ (1) führen zu Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung.
Gemäß dem Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gab es am 9. April 2020 an den 680 Klinikstandorten, die ihre Daten an das Register übermittelt hatten, 16734 Intensivbetten. Davon waren 9695 (58%) belegt und 7038 (42%) frei. Am selben Tag befanden sich 1888 Patienten mit COVID-19 auf Intensivstationen, von denen 1464 (78%) beatmet wurden (2). Die Daten des DIVI-Intensivregisters vom 17. April 2020 zeigen, dass insgesamt 2601 Patienten mit COVID-19 zu diesem Zeitpunkt auf Intensivstationen behandelt wurden, wobei 73,7% eine Oxygenierung oder künstliche Beatmung erhielten (3).
Ziel dieser Arbeit war es, die maximale Anzahl von COVID-19-Fällen, die im Zeitraum vom 11. April bis 30. Juni 2020 intensivmedizinisch behandelt werden müssen, unter verschiedenen nichtexponentiellen Extrapolationen der zeitlichen Entwicklung der gemeldeten COVID-19-Fälle zu bestimmen.
Material und Methoden
Wir extrahierten die kumulative Anzahl der im Labor bestätigten COVID-19-Infektionen in Deutschland für den Zeitraum vom 2. März bis 10. April 2020 (4). Anhand der täglichen kumulativen Fallzahlen berechneten wir die tägliche Zahl der neu entdeckten COVID-19-Fälle.
Für den Zeitraum vom 11. April bis 30. Juni 2020 gingen wir von drei verschiedenen Szenarien für die Entwicklung der kumulativen Fallzahlen aus, wobei wir die kumulative Zahl von 117658 bis zum 10. April 2020 entdeckten Fällen und 4133 neuen Fällen, die am 10. April 2020 entdeckt wurden, zugrunde legten:
eine lineare Fortsetzung der kumulativen Fallzahlen
ein langsamer quadratischer Anstieg der kumulativen Fallzahlen und
ein schneller quadratischer Anstieg der kumulativen Fallzahlen.
Die quadratische Extrapolation folgt der folgenden Formel: f =a ×i2+ (b +a) ×i +117658, wobei f die extrapolierte kumulative Anzahl der COVID-19-Fälle, a eine quadratische Komponente der Steigung, b die Anzahl der täglich neuen Fälle (zum Beispiel 4133), i das umskalierte Kalenderdatum, wobei das erste Kalenderdatum auf 1 umskaliert wird, und 117658 die kumulative Anzahl der COVID-19-Fälle vor der Extrapolation ist. Wir verwendeten die Werte 0 (lineare Extrapolation), 25 (langsame quadratische Extrapolation) und 50 (schnelle quadratische Extrapolation) für a. Da die Zahl der täglich gemeldeten neuen COVID-19-Fälle seit dem 27. März 2020 nicht mehr steigt, verwendeten wir keine exponentielle Fortsetzung der kumulativen Fallzahlen.
Unter Verwendung der täglichen kumulativen Fallzahlen führten wir eine Hochrechnung zur täglichen Zahl neu entdeckter COVID-19-Fälle durch. Anschließend gingen wir von unterschiedlichen Prozentsätzen neu erkrankter Patienten aus, die intensivpflichtig werden (3–10%), basierend auf Erfahrungen in Spanien (6,2%) (5), Italien (9–11%) (6) und den USA (8,2%) (7). Auf der Grundlage der Kalibrierung (siehe unten) für die deutschen Daten nahmen wir einen Prozentsatz von 3% an.
Darüber hinaus nahmen wir eine durchschnittliche Dauer von acht Tagen an, nach der ein neu gemeldeter COVID-19-Fall intensivpflichtig wurde. Wir nahmen an, dass die Dauer auf der Intensivstation 14 oder 20 Tage betragen würde. Die geschätzte Zahl der täglichen intensivpflichtigen Fälle bis zum 18. April basiert auf den vom Robert Koch-Institut (RKI) bis zum 10. April 2020 täglich neu gemeldeten COVID-19-Fällen. Das angenommene Zeitintervall von acht Tagen zwischen der Meldung und der Intensivpflichtigkeit erklärt, warum die täglichen Fälle auf der Intensivstation bis zum 18. April anhand empirischer Daten geschätzt werden konnten. Danach basieren die geschätzten Zahlen auf den hochgerechneten neuen COVID-19-Fallzahlen, wie sie sich aus den drei oben erwähnten Szenarien für den Zeitraum vom 11. April bis 30. Juni 2020 ergeben. Die Zahl der Patienten mit COVID-19, die auf der Intensivstation eine Oxygenierung oder Beatmung benötigen, kann berechnet werden, indem unsere Fallzahlen für intensivpflichtige COVID-19-Patienten mit 73,7% multipliziert werden, was dem Anteil der COVID-19-Patienten entspricht, die auf der Intensivstation eine Oxygenierung oder Beatmung benötigen.
Das DIVI-Intensivregister berichtete für den 9. April 2020, dass in Deutschland 1888 COVID-19-Fälle auf der Intensivstation behandelt werden (2). Diese Zahl haben wir verwendet, um die Kalibrierung unserer Projektion der COVID-19-Patienten zu bestimmen, die tägliche Intensivpflege benötigen. Alle Berechnungen wurden mit SAS 9.4 (Cary, North Carolina) durchgeführt.
Ergebnisse
Seit dem umfangreichen bundesweiten Kontaktverbot (Lockdown) vom 23. März bis 10. April 2020 ist die kumulative Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle in Deutschland fast linear angestiegen. Die tägliche Zahl der bestätigten neuen Fälle zeigt seit dem Lockdown keinen weiteren starken Anstieg; sie schwankt zwischen 2051 und 6014 Fällen mit einem Median von 4757 Fällen. Der Rückgang der Zahl der sonntags gemeldeten neuen Fälle ist darauf zurückzuführen, dass nicht alle Gesundheitsbehörden dem RKI sonntags neue Fälle melden; es handelt sich somit um ein Artefakt (Grafik 1).

Die Extrapolation der neu registrierten COVID-19-Fälle ergibt bis zum 30. Juni 2020 maximal 4133 (lineare Extrapolation) bis 12233 Fälle (schnelle quadratische Extrapolation) pro Tag. Bis zum 30. Juni 2020 sagen unsere Extrapolationen eine kumulative Anzahl neu registrierter COVID-19-Fälle von 452431 (lineare Extrapolation) bis 784531 (schnelle quadratische Extrapolation) voraus (Grafik 2).

Wenn sich ein linearer zeitlicher Trend der kumulativen Fallzahlen fortsetzt und 3% der Patienten mit COVID-19 intensivpflichtig werden, wird die maximale tägliche Bettenbelegung von Intensivbetten circa Mitte April erreicht (14. April für 14 Tage Intensivpflege, 20. April für 20 Tage Intensivpflege). Die maximale Auslastung würde einen Wert von 1989 (14-tägige Intensivpflege) beziehungsweise 2790 Patienten (20-tägige Intensivpflege), die gleichzeitig auf Intensivstationen behandelt werden, nicht überschreiten. Bei einem schnellen quadratischen Anstieg der kumulativen Fallzahlen würde die maximale Inanspruchnahme am 30. Juni 2020 durch 4529 (14 Tage Intensivpflege) oder 6290 Patienten (20 Tage Intensivpflege) erfolgen (Grafik 3, Tabelle 1). Die Anteil der intensivpflichtigen Patienten, die eine Oxygenierung oder künstliche Beatmung benötigen, wird voraussichtlich bei 73,7% der Patienten auf der Intensivstation liegen. Wenn zum Beispiel am 30. Juni 6290 Patienten intensivmedizinisch versorgt werden müssen, wären demnach 4636 Patienten zu erwarten, die eine Oxygenierung oder künstliche Beatmung benötigen.


Unter der Annahme einer konstanten täglichen Zahl gemeldeter neuer COVID-19-Fälle hängt der Anteil der Intensivbetten, die für Patienten mit COVID-19 in ganz Deutschland pro Tag benötigt werden, stark von den weiteren Annahmen ab. Unter der Annahme von 20000 täglichen Neuerkrankungen (etwa das Fünffache der am 10. April 2020 beobachteten Fallzahl) und einem Anteil von 6% der Patienten, der über einen Zeitraum von 14 Tagen intensivmedizinisch versorgt werden muss, würden 16800 Intensivbetten benötigt, was 56% der derzeitigen Intensivbettenkapazität entspricht (Tabelle 2).

Bei einem Intensivpflichtigkeitsanteil von 3,0% und einem Intervall von acht Tagen zwischen der Meldung eines positiven Tests und dem Eintreten der Intensivpflichtigkeit sowie einem 14-tägigen Aufenthalt auf der Intensivstation kommt unsere Hochrechnung für den 9. April 2020 auf eine Zahl von 1879 intensivpflichtigen Patienten, während das DIVI-Intensivregister 1888 Patienten mit COVID-19 meldete, die zu diesem Zeitpunkt auf Intensivstationen behandelt wurden. Das DIVI-Intensivregister deckte allerdings die Bettenkapazität der Intensivstationen in Deutschland noch nicht vollständig ab, sondern erfasste etwa 83% der Krankenhäuser, insbesondere große Krankenhäuser und Universitätskliniken. Wir spekulieren, dass circa 90% der COVID-19-Fälle, die derzeit auf der Intensivstation behandelt werden müssen, durch das Register abgedeckt wurden. Damit entspräche eine vollständige Erhebung etwa 2098 Patienten. Bei einem Intensivpflichtigkeitsanteil von 3,3%, einem Intervall von acht Tagen zwischen der Meldung eines positiven Tests und dem Beginn eines 14-tägigen Aufenthalts auf der Intensivstation kommt unsere Hochrechnung auf die Zahl von 2066 Patienten.
Diskussion
Wir haben drei nichtexponentielle pessimistische Szenarien der weiteren zeitlichen Entwicklung neu diagnostizierter COVID-19-Fälle in Deutschland verwendet, obwohl die Zahl der neu entdeckten COVID-19-Fälle seit Ende März 2020 nicht mehr steigt, sondern stagniert. Unter der Annahme, dass 3–10% der neu entdeckten COVID-19-Fälle intensivpflichtig werden und die durchschnittliche Verweildauer 14 oder 20 Tagen beträgt, kommen wir zu maximalen täglichen Fallzahlen auf Intensivstationen zwischen 1989 (lineare Extrapolation, 3% intensivpflichtig, 14 Tage auf der Intensivstation) und 20966 (schnelle quadratische Extrapolation, 10% intensivpflichtig, 20 Tage auf der Intensivstation). Die Kalibrierung mit den COVID-19 Belegungszahlen auf Intensivstationen nach dem DIVI-Intensivregisters vom 9. April 2020 spricht eher für eine tägliche Maximalzahl intensivpflichtiger COVID-Patienten, die näher am unteren Wert als am oberen Wert dieses Bereichs liegt.
Aus unserer Sicht geben die Ergebnisse der Extrapolation keinen Anlass zu einer Diskussion über eine bevorstehende notwendige Triage von Patienten mit COVID-19, die einer Behandlung auf der Intensivstation benötigen. Es ist jedoch zu beachten, dass nur ein Teil aller Intensivbetten für COVID-19-Fälle zur Verfügung steht. So waren zum Beispiel am 17. April 2020 51% der Betten auf Intensivstationen mit anderen als an COVID-19 erkrankten Patienten belegt. Darüber hinaus ist die Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern in Deutschland nicht einheitlich, sodass es Krankenhäuser mit Überlastung der Intensivstationen und andere Krankenhäuser mit geringer Belastung der Intensivstationen geben kann, wenn die Belegung der Intensivbetten nicht flächendeckend koordiniert wird.
Im Gegensatz zu unseren nichtexponentiellen Extrapolationen verwendeten Meares und Jones eine exponentielle Extrapolation der COVID-19-Fallzahlen in Australien, um die erforderliche Kapazität der Intensivbetten abzuschätzen (8). Wir haben diesen Ansatz nicht verwendet, weil die seit dem 27. März 2020 neu gemeldeten COVID-19-Fälle in Deutschland stagnierten oder einen Rückgang zeigten. Darüber hinaus macht die schrittweise, kontrollierte Rücknahme des Lockdown unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen und eine zu erwartende rasche Reaktion im Fall eines Wiederanstiegs neuer Fallzahlen einen zukünftigen exponentiellen Anstieg in Deutschland unwahrscheinlich. Gegenwärtig scheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass das exponentielle Wachstum für einen längeren Zeitraum wieder einsetzt. Dennoch sind politische Maßnahmen erforderlich, um sicherzustellen, dass dies nicht geschieht. Es sei darauf hingewiesen, dass unsere Ergebnisse keine Handlungsempfehlungen zur Lockerung des Lockdown enthalten.
Es gibt mehrere Faktoren, die unsere Ergebnisse limitieren. Erstens konnten wir für unsere Schätzung nur im Labor bestätigte COVID-19-Fälle aus der Zeit vom 2. März bis 20. April 2020 verwenden. Aufgrund der begrenzten COVID-19-Testkapazität und der damit begrenzten Anwendung dieses Tests sowie aufgrund der begrenzten Sensitivität des Tests wird die tatsächliche Zahl der COVID-19-Fälle in Deutschland erheblich größer sein, als vom Robert Koch-Institut offiziell gemeldet wird. Li et al. schätzten kürzlich, dass 86% aller COVID-19-Infektionen in China undokumentiert waren (9). Zweitens handelt es sich bei der Entwicklung der kumulativen Zahl der neu registrierten COVID-19-Fälle bis Ende Juni 2020 um eine Hochrechnung. Wir verwendeten allerdings drei verschiedene nichtexponentielle pessimistische Szenarien der Entwicklung in Deutschland, obwohl die tägliche Zahl der neu gemeldeten COVID-19-Fälle seit Ende März 2020 nicht steigt, sondern stagniert. Drittens konnten wir nicht zwischen Patienten mit COVID-19 unterscheiden, die mit oder ohne künstliche Beatmung intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Unsere geschätzten Fallzahlen für intensivpflichtige COVID-19-Fälle können zur Schätzung der Zahl der Patienten verwendet werden, die nichtinvasive Beatmung, mechanische Beatmung, High-Flow-Sauerstofftherapie oder extrakorporale Membranoxygenierung benötigen, indem wir davon ausgehen, dass 73,7% der Patienten mit COVID-19 auf Intensivstationen in Deutschland laut DIVI-Intensivregister eine dieser Behandlungen benötigen.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 14. 04. 2020, revidierte Fassung angenommen: 20. 04. 2020
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH
Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie
Universitätsklinikum Essen
Hufelandstr. 55, 45147 Esssen
imibe.dir@uk-essen.de
Zitierweise
Stang A, Stang M, Jöckel KH: Estimated use of intensive care beds due to COVID-19 in Germany over time. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 329–35. DOI:10.3238/arztebl.2020.0329
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de